Gilberte als kunstvoller Fiebertraum neu erzählt

Vorletzte Woche hatten wir es hier angekündigt: Eine für das 21. Jahrhundert modernisierte Gilberte de Courgenay feierte am 10.11.2025 Premiere am Theater Neumarkt in Zürich.

Und wir, des Autors Nachkommen, sassen in der ersten Reihe und wagen hier den scheuen Versuch ein Stück zu rezensieren, das von der NZZ jüngst als «satirische Rettung eines Mythos in die Gegenwart» betitelt wurde.

Hat's schon angefangen?

Als sich um 18:55 die Pforten zum Vorstellungssaal öffnen, herrscht im marmorwändigen Bistro auf der Bühne sowie im Zuschauerraum bereits reger Betrieb. Wobei «rege» vermutlich das falsche Wort ist. In gelblich-fahlem Licht stapfen trübsinnig dreinblickende Kellner/innen mit Schmalzfrisur, bewaffnet mit Tabletts und Schürzen über die Bühne und zwischen den Zuschauern hin und her. Jeder von ihnen scheinbar in seiner eigenen Manie gefangen. Und ganz nebenbei hosenlos. Teil der kommenden Story oder einfach nur künstlerische Freiheit?

Trübsinnige Kellner/innen wandeln im fahlen Licht durchs Bistro (Bild © L. Mäglin)

Auf der Bühne regiert zwanghaftes Abstauben, immer wieder über dieselbe Stufe stolpern, Mantel-Streicheln, Bild-Begaffen ... in Endlosschleife. In der Hand dezent für das kleine bisschen Alibi-Schweizertum ein Maggifläschchen und eine Dose Aromat. Nach etwa einer Viertelstunde trübsinnigen Treibens fragt man sich als Zuschauer unwillkürlich: Hat das Stück eigentlich schon begonnen?

Da ... ein Wort!

Und dann, nach etwa 20 Minuten fallen sie ... nicht die (mittlerweile in Mäntel gehüllten) Soldaten, sondern die ersten Worte!

«Dejà vue!»

«Pruntrutt!»

«Ych ka Dütsch!»

Programmatisch, mechanisch werden diese Phrasen über die Bühne verteilt, während sich die Charaktere, scheinbar jeder in seiner eigenen Welt gefangen, immer mal wieder eher zufällig auf der Bühne begegnen. Hatte diese Dame eigentlich schon vorher einen Schnauzer?

Dann plötzlich «Alaaaarm!!!»

Alarm! (Bild © L. Mäglin)

Auf den Boden. Ducken. Angst. Stille. Damit auch jedem klar wird: wir sind im Krieg.
Obszessives Aufräumen. Plötzlich herrscht militärische Ordnung auf der Bühne, allerdings erinnerm die zwanghaften Handlungen eher an einen Frühlingsputz im Irrenhaus.

Oben im Bistro hängen ganz unscheinbar zwei alte Röhrenfernseher, die Ausschnitte aus dem Film von 1941 zeigen. Klangen diese Dialoge immer so lächerlich? Nein, da wurde doch drüber gesprochen ... ah ja. Der saloppe Dialog überzeichnet die verstaubten Rollenbilder der Originaldialoge, zieht sie ins Groteske. Ein Gratwanderung. Wird hier Grabschändung betrieben?

Und es ward Dialog

Nach 40 Minuten wird von der Wirtin (Gilbertes Mutter) eine imaginäre Berner Platte aufgetischt, deren kulinarischer Inhalt man sich dank der schauspielerischen Höchstleistung der genüsslich fressenden Protagonisten unschwer vorstellen kann. Zu feuchtfröhlichem Gezeche entstehen die ersten schweizerdeutschen Dialoge, in denen man die ersten Verweise auf das Originalstück erkennt. Aber auch hier wieder werden die Szenen verzerrt, gedehnt, übersteuert, manchmal bis an die Grenze des Verstandes.

Es kommt Farbe ins Spiel

Nach einer Dreiviertelstunde ist es endlich soweit ... der vermeintliche Küchendragoner betritt den Raum. Stille. Plötzlich gehen Scheinwerfer an mit Spektralfarben, die man glatt vergessen hatte. Aus dem eintönigen Grau mit Gelbstich wird eine farbige Szene. Gilberte ist da! Auch sie (natürlich) in Unterwäsche (was aber noch immer nichts zur Sache tut).

Dann Lechzen. Gieriges Begrabschen. Die Soldaten können fast nicht mehr an sich halten. Es ist offensichtlich: man möchte hier bewusst die Stereotypen einer Welt von gestern hochnehmen. Aber ist das schon Alles, was das Stück uns sagen möchte?

Gilberte (Mitte) tröstet Hasler (rechts) (Bild © L. Mäglin)

Nach einigen schweizerdeutschen Dialogen wechselt Gilberte plötzlich ins Hochdeutsche. Was passiert hier? Wirre Phasen unverständlichen Gebrabbels wechseln sich ab mit Lichtblicken aus fast schon genialen, komplizierten Polit-Monologen, welche masslos überspitzt das Schweiztum besingen. Manchmal glaubt man gar einer Göbbelschen Propagandarede zu lauschen. Dann driftet es wieder ab, es folgt di nächste Phrasendrescherei.

«War die Schweiz nischt schon früher schön öhnö die Fremdö?»

«Schweiz!»

«Berge!»

«Ych chann Dütsch!»

Immer mehr beschleicht einen das Gefühl, an den wirren Gedankengängen eines dementen, traumatisierten Kriegsveteranen teilzuhaben. Kurz vor der Psychose.

Schauspielerisch eindrucksvoll

Während all dies passiert, werden Kostüme scheinbar zufällig und völlig unvorhersehbar gewechselt. Soldat wird Gilberte, Gilberte wird Soldat. Mann wird Frau und umgekehrt. Schnauz hier, Schnauz da. Es wird mit Dialekten und Sprachen jongliert. Französisch kippt um in Bärndüütsch, scharfkantiges Hochdeutsch bekommt plötzlich einen starken welschen Akzent oder gar Migrationshintergrund.

Tilli torkelt herein, gespielt von einem langbeinigen Mann mit feschem Schnauzer. Sie jault und jodelt. Die verzweifelte Heulboje wird vom Publikum mit Lachen belohnt. Man driftet in die Odermatt-Szene. Derselbe Schauspieler, der gerade eben noch die am Boden zerstörte Tilli spielte, wird dank der Melone und breitbeinigen Stuhlsitzen zum gestrengen Odermatt.

Odermatt-Szene im verwüsteten Lokal (Bild © L. Mäglin)

Auch Soldat Haslers Rolle wechselt so schnell durch den Schauspiel-Reigen die Hand, dass langsam klar wird: hier werden Rollen, Geschlechter, Herkünfte, Dialekte und Ansichten derart bewusst vermischt, dass am Ende alles verwischt. Sind wir nicht alle Teil miteinander verworrener Spektren?

Das Eindrucksvolle daran: stets ist klar, wer welche Rolle gerade spielt. Die schauspielerischen Leistungen sind top. Die Dialoge sitzen. Das Timing ist durch seine Unvorhersehbarkeit definitiv nicht einfach. Und die Schauspieler/innen gehen all in. Es wird gepoltert und geschwitzt.

Der Bogen zum Anfang

Nach etwa 100 Minuten bewegen wir uns stilistisch wieder in Richtung Anfang. Nochmals Fokus auf Gilberte. Sie spielt die klassische Rolle der opferbereiten Frau, die ihr Schicksal scheinbar mit erhobenem Haupte trägt. Gönnerisch schickt sie Tilli an ihrer Stelle ins Feld, um den Soldaten Hasler freizugeben, den auch sie heimlich mehr ins Herz geschlossen hat, als ihr lieb ist.

Doch wer kann das schon, das einfach alles so still ertragen? Ganz ohne Schaden zu nehmen. Diese Gilberte nicht. Dafür ist sie hier zu menschlich, zu realitätsnahe. Und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Zu einem depressiven Banger-Techno fängt die Szene an ins schizophrene abzudriften. Eine irgendwie logische Folge der gesellschaftlich aufgezwungenen Selbstaufopferung. Mehrere Gilberten tanzen da plötzlich wieder so apathisch durchs Bistro, so wie sie zu Beginn servierten.

Und da dämmert im Zuschauer die Erkenntnis: Sind wir nicht alle manchmal wie Gilberte? An den  Erwartungen unserer Gesellschaft zerbrechend?

Und auf einmal fängt die Anfangsszene an, Sinn zu machen. Und da ist plötzlich Doppel-Tilli, die in Stereo spricht. Mit leichtem Delay, um das Ganze noch eindringlicher zu machen. Und Doppel-Odermatt.

Tilli umringt von Gilberten (Bild © L. Mäglin)

Und dann sind wir da, wo das ganze angefangen hat: Im stumpfen, posttraumatischen Trübsinn einer Volksheldin des 1. Weltkrieges, die während des Zweiten Weltkrieges in der neutralen Schweiz zur Symbolfigur des Zusammenhalts stilisiert wurde. Und deren Persönlichkeit daran zerbrochen ist. Zumindest in dieser Interpretation.

Fazit

Wer sich hier eine volkstümliche Wiederaufbereitung von Bolos beliebtem Bühnenstück «Gilberte de Courgenay» oder gar Franz Schnyders Film von 1941 erhofft, ist im Theater Neumarkt eher fehl am Platz. Was man hier serviert bekommt, ist absolute Theater-Avantgarde.

Wer sich denkt: «Gilberte wollte ich schon immer kennenlernen, jetzt hab ich endlich live die Möglichkeit dazu» ist vermutlich auch im falschen Film. Denn wem nicht die Handlung von ebendiesem Film, Roman oder Bühnenstück einigermassen präsent ist, wird aus den bruchstückhaften Referenzen keine kohärente Geschichte herausschälen können.

Wem sei das Stück also empfohlen?

Denjenigen Geniesser/innen schauspielerisch hochstehender Bühnendarbietungen, denen die Madame Gilberte zuvor schon etwas geläufig ist und die Lust haben, sie von einer ganz neuen, etwas schrillen und satirisch überzeichneten Seite kennenzulernen. Einer Seite, die auf den ersten Blick etwas seltsam anmutet, aber im Gegenzug viele Überraschungsmomente birgt und auch zu tieferem, kritischeren Nachdenken anregt. Ganz im Gegensatz zum originalen, bewusst volkstümlich gehaltenen Stück von Bolo. Damals galt es ja schliesslich die geistige Landesverteidigung aufzubauen.

Abschliessend bleibt zu sagen: dem Premieren-Publikum hat es gefallen. Der nicht enden wollende Applaus lieferte eindrückliches Zeugnis dafür.

Das Neumarkt-Team geniesst die Standing Ovation (Bild © L. Mäglin)

Für uns Nachkommen Bolos war besonders eindrücklich zu erleben, wie aus einem doch relativ einfachen «Grundmaterial» ein modernes theatralisches Kunstwerk entstehen kann, wenn eine entsprechend befähigte Personen wie Mathieu Bertholet, gesegnet mit einem motivierten Team und einem hervorragenden ENSEMBLö, aus dem Vollen schöpft.

Die Familie Mäglin bedankt sich bei Mathieu und dem ganzen Team ganz herzlich für die Einladung, wünscht weiterhin viel Erfolg mit der «Gilberte» und grüsst aus Basel.

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